Prolog

 

 

 

Er öffnet mir die Tür mit einem Gesichtsausdruck, der voller Wut, Sorgen und aufgewühlter Gefühle ist. Einem Gesichtsausdruck, der sagt: Ich habe die verdammten letzten fünf Stunden damit verbracht, wie ein Verrückter hier auf und ab zu tigern. Wo zur Hölle warst du? Es ist halb drei Uhr nachts!

 

„Hi“, krächze ich leise und fühle eine Tonne von Schuldgefühlen auf meinen Schultern, schwer wie Blei, Granit und Stahl zusammen. Ich drücke mich an ihm vorbei, versuche ihn nicht zu berühren, als sei er ein hochgefährlicher Vulkan und ich könnte mich an ihm entflammen. Gott, auf einmal kommt er mir viel imposanter vor. Ist er wirklich einen Kopf größer als ich? Oder ist er in den letzten Stunden gewachsen?

 

Er sieht mich ausdruckslos an, aber an der Art und Weise wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, merke ich, dass er innerlich kocht.

 

Aus einem inneren Impuls heraus gehe ich in den Raum, indem unser blöder Streit begonnen hat: in die Küche. Die Teller mit den Resten ‚Spaghetti alla Scampi’ stehen noch da, die Rotweingläser sind halb ausgetrunken, aber ein Stuhl liegt quer vor dem Fenster auf dem Boden. Oh je! Hatte er ihn dorthin geschleudert?

 

Er folgt mir und die Schwere jeder einzelner seiner Schritte unterstreicht den Sturm, der in ihm tobt. Und dann stehen wir in zwei unterschiedlichen Ecken der Küche. Er mit verschränkten Armen, angelehnt mit den Schultern an der Wand links. Ich mit rasenden Gedanken im Kopf und Halt suchenden Händen an der Theke rechts.

 

„Du bist betrunken“, beginnt er und seine tief sitzenden Augen durchdringen mich ganz und gar.

 

Seine Stimme muss sich nach unserem Streit um zwei Oktaven vertieft haben. Ist das möglich?

 

Aus dem CD-Spieler im Wohnzimmer höre ich harte Heavy Metal Musik. „Brothers Everywhere, Raise Your Hands Into The Air, We're Warriors, Warriors Of The World …” Seit wann hört er denn Man-o-war?

 

„Du bist ein Vollidiot“, hatte ich ihn angeschrien, war zur Tür gelaufen, hatte meine Jacke geschnappt und hatte die Tür so laut ins Schloss geworfen, wie ich nur konnte. Bei der Erinnerung wische die Tränen, die mir auf einmal über die Wangen laufen, mit meinem Handrücken ab.

 

„Ja, ich habe was getrunken“, bringe ich hervor und habe das Gefühl, ihm etwas ganz Schlimmes beichten zu müssen.

 

Er fährt sich wütend mit der Hand durch seine lockigen, wuschligen Haare. „Deine Strumpfhose ist am Knie zerrissen.“ Es ist weniger ein Vorwurf, sondern eher eine Feststellung mit dem starken Unterton von Sorge.

 

Ja! Scheiße! Kurz vor seiner Wohnung bin ich übel gestürzt, weil ich die kleine Erhöhung im Kopfsteinpflaster nicht bemerkt hatte. Mir war schwindlig und ich hatte Angst, zu ihm zurückzukommen. Meine Beine waren ganz zittrig. Würde er mir überhaupt aufmachen? Wie sauer würde er sein?

 

„Wo warst du?“ Seine Stimme schneidet tief in meine Seele und plötzlich kommt mir mein Verhalten sehr töricht vor. Was sich vor ein paar Stunden noch berechtigt und logisch angefühlt hatte, ist jetzt eine seltsame Mischung aus Missverständnis, Überstürzung, Jähzorn und Unreife.

 

„In einer Bar.“

 

„Ach, tatsächlich?“, kommentiert er ironisch, zieht gespielt fragend die Augenbrauen hoch und lacht für einen kurzen Moment bitter auf. Seine Arme sind immer noch vor der Brust verschränkt. „Und?“, hakt er unerbittlich nach und erwartet weitere Ausführungen.

 

„Zuerst“, beginne ich und suche panisch nach den folgenden Worten. Warum bin ich nur so aufgeregt? „Äh, zuerst wollte ich nur weg von dir.“

 

„Und dann?“

 

„Habe ich mir den ersten Zombie bestellt.“

 

Er atmet geräuschvoll aus, schüttelt fassungslos den Kopf, als betrachte er ein kleines Kind, und fasst sich an die Stirn.

 

Himmel, wie er da drüben an der Wand lehnt, so aufgewühlt und sauer auf mich. In meinem Bauch zieht sich wirklich alles zusammen. Ich muss ihm erklären, wie sehr er mir in den letzten Stunden gefehlt hat. Wir sind doch erst seit einem Monat zusammen.

 

„Warum bist du nicht an dein Telefon gegangen?“ Er klingt rau.

 

Ungläubig krame ich mein Handy aus der Gesäßtasche meines Jeansrocks. Zwölf Anrufe in Abwesenheit! Oh shit! Meine Wangen fangen an zu glühen und mir fällt es schwer, seinem Blick standzuhalten.

 

„Ich hatte es auf lautlos gestellt, bevor ich heute zu dir kam. Niemand sollte uns stören.“ Je länger wir hier stehen, umso schlechter fühle ich mich. Womit hatte der blöde Streit nur angefangen?

 

Er wollte doch lediglich wissen, was ich nach meinem Abitur machen möchte. Eine ganz harmlose Frage, die ich nicht beantworten konnte. Plötzlich fühlte ich mich unvorbereitet, chaotisch, dumm und naiv. Nur eines wusste ich: Ich würde auf jeden Fall in Augsburg bleiben. Ich liebte Augsburg über alles. Niemals könnte ich mir vorstellen, von hier wegzugehen, um an irgendeiner angesagten Uni im Norden oder Westen Deutschlands zu studieren. Augsburg war einfach meine Heimatstadt. Aber diese Antwort genügte ihm nicht.

 

Eigentlich blieb er lange ruhig und souverän, doch als ich ihm fünf Sätze später entgegenschleuderte: „Du bist ein besserwisserischer, selbstgerechter, durchgeplanter Arsch!“, riss er beide Augen auf, sagte einen Moment gar nichts und legte dann - leider - los.

 

Dass er fünf Jahre älter ist als ich, merke ich an vielen Dingen. Er hat eine ziemlich klare Vorstellung seiner Zukunft. Einer junger Mann, der genau weiß, was er will, mit einem Verstand, der messerscharf ist. In seinem Bücherregal stehen sämtliche Klassiker der Literatur: Von Günter Grass’ ‚Die Blechtrommel’ bis hin zu Franz Kafkas ‚Die Verwandlung’. Mathematische Rätsel mit der Aufschrift ‚Killerversion’ löst er innerhalb weniger Minuten und in Diskussionen bleibt er ruhig, logisch und ist immer auf eine natürliche Art überlegen. Allerdings gibt er mir nie das Gefühl, er wisse mehr als ich.

 

Mir fällt es unendlich schwer ihn anzusehen. Ja, er ist stinkwütend auf mich, eindeutig. Nicht weil ich ihn laut beleidigt habe, sondern weil ich einfach abgehauen bin, mich betrunken habe und seine Anrufe nicht beantwortet habe.

 

Irgendetwas in mir bröckelt und ich gehe zögernd kleine Schritte auf ihn zu, voll intensiver Scham.

 

 

 

Er zuckt kurz mit den Mundwinkeln, richtet sich auf und löst seine Arme, bleibt aber stehen. Das bin ich nicht gewohnt. Wenn ich mich mit Mama oder Felix zoffe, kommt immer einer von beiden zuerst auf mich zu. Den ersten Schritt zu gehen, fällt mir schwer.

 

Und dann sage ich die Worte, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge liegen, aber die es wegen meines blöden Stolzes nicht nach draußen geschafft haben. Worte, die mir klar machen, dass es nicht nur wunderschön ist, seine Freundin zu sein, sondern auch, dass er in mir etwas auslöst, das mich verändert, mich wachsen lässt.

 

„Kannst du … mir … verzeihen?“

 

Er atmet geräuschvoll aus, zieht mich mit einem heftigen Ruck in seine kräftigen Arme, schlingt seine Hände beschützend um meine Taille und legt den Kopf auf mein Kinn.

 

„Nur wenn du nie wieder von mir davonläufst.“

 

Ich schniefe in seinen Brustkorb und wünsche mir, ich hätte ein Taschentuch. „Versprochen.“

 

„Ich hätte dich nicht provozieren sollen“, flüstert er plötzlich in meinen Hals. „Tut mir leid, wirklich. Mit achtzehn oder neunzehn Jahren wusste ich auch noch nicht, was ich wollte. Ich bin ein holzklotziger Idiot.“

 

Ja, das dachte ich vor ein paar Stunden auch. Aber was für ein anziehender Idiot!

 

Ich ziehe seinen Kopf in einer leidenschaftlichen Bewegung zu mir und presse meinen Lippen auf seine. Seine Zunge fährt intensiv in meinen Mund und lässt prickelnde Schauer und Blitze in meinem Unterbauch regnen. Mir wird furchtbar schwindlig. Dieses Mal ist es ein schöner Schwindel.

 

Ich habe überhaupt kein Bild von meiner Zukunft, keine Vorstellung, nichts, aber eine Sache ist mir klar: Mein Platz ist an seiner Seite.

 

„Schlaf mit mir“, hauche ich fordernd in seine Ohren und wundere mich über mich selbst. Niemals hätte ich mich früher getraut, so einen Satz zu sagen. Gott!

 

Er hält lange inne, studiert mein Gesicht, blitzt mich mit funkelnden Augen an, schüttelt langsam den Kopf und sagt atemlos: „Ja, das werde ich tun. Aber nicht jetzt, du bist ziemlich betrunken. Und ich fände es besser -“

 

„Was? Nein! Das ist Folter, das kann ich nicht aushalten“, beschwere ich mich fassungslos und kann nicht glauben, dass er das wirklich ernst meint. Alles in mir möchte ihn spüren, jeden einzelnen Zentimeter.

 

Doch er sieht mich mit erregten, aber ernsten Augen an, schwingt mich in einem Ruck hoch und trägt mich auf seinen starken Armen in sein Schlafzimmer. „Glaub mir, es fällt mir echt verdammt schwer.“

 

„Bitte, ist doch egal“, bettele ich, als er mich sanft auf das Laken legt ohne das Licht anzuschalten, und meine Schuhe für mich auszieht.

 

„Nein, ich möchte dich bei klarem Kopf, mit all deinen Sinnen“, flüstert er mit einem Blick auf mein Gesicht und auf meinen Körper, der mich schon wieder ganz schwach werden lässt. Doch der sanfte Ton seiner dunklen Stimme ist unmissverständlich entschlossen und damit ist jede weitere Diskussion beendet.