Prolog

 

1984, ein Mädchen, 9 Jahre alt

 

 

 

Ich werde den Geruch dieses Tages nie vergessen.

 

Wir sind auf einem Feldweg, mein Bruder und ich. Endlich Sommerferien! Die Sonne brennt herunter und die Luft ist trocken und flirrend. Wie bei Nonna und Nonno[i] in Sizilien, wo der Asphalt so glühend heiß ist, dass man von einem Bein aufs andere hüpfend einen schattigen Bodenabschnitt sucht. Oder flucht, weil man gerade keine Schuhe zur Hand hat. Wir sind jeden Sommer dort.

 

Unser Papa ist Sizilianer. Das heißt, Paul und ich sind Spaghettifresserkinder, so nennen uns die anderen. Mir ist klar, sie wollen uns wehtun, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Papa sage ich nie, dass sie uns so nennen. Manchmal sind wir auch Makkaronifresserkinder, je nach Stimmungslage oder Alter unseres jeweiligen Gegenübers. Aber Mama ist ‚Eine von hier‘. Eine Deutsche mit langen, rotgelockten Haaren und schneeweißer Haut. Egal, wo wir auftauchen, wir fallen auf, immer.

 

In diesem Sommer ist alles anders. Wir besuchen Nonna Giovanna und Nonno Paolo, Papas Eltern, nicht. Und auf meinem Herzen liegt ein riesiger Fels. Was zur Hölle ist passiert?

 

Paul sitzt hinten auf dem Gepäckträger meines Rads. Auf meinen kleinen Bruder habe ich sehnsüchtig gewartet. Sieben ewige Jahre hat es gedauert, bis Mama und Papa endlich mit einem Geschwisterkind um die Ecke kamen. Beim Schicksal hatte ich eigentlich eine kleine blonde Schwester bestellt, aber daraus wurde nichts. So viel zu Wünschen und Wirklichkeit. Egal, ein Bruder ist besser als gar kein Kind. Außerdem war mir schon früh klar, dass ich in unserer verrückten Familie einen engen Verbündeten brauchen würde.

 

Jetzt sind wir genau dort, wo wir nicht sein dürfen – an den Bahngleisen. Aber Abenteuer sind immer da, wo man nicht sein darf. Die Züge donnern an uns vorbei und der Fahrtwind wirbelt unsere Haare auf. Fasziniert starren wir den eisernen Wagons hinterher, die an uns vorbeirauschen, um dorthin zu fahren, wo mehr los ist. Wenn man sich ganz nahe an die Gleise stellt und die Augen schließt, fühlt es sich so an, als stünde man vor einem Tor zu einer anderen Welt.

 

Mama und Papa sind im Schrebergarten. Aber da ist es furchtbar langweilig. Mama spricht mit den Rosen und Papa kämpft gegen das deutsche Unkraut. Wahlweise streiten sie auch, so laut, dass die Nachbarn die Polizei rufen, weil sie denken, einer von beiden murkst den anderen ab. Beim letzten Mal flogen die Teller so heftig gegen die Wand, dass wir nun Dullen darin haben. Niemand hat sie weggemacht, nur die Flecken von der Tomatensauce. Heute haben die beiden nur über die Zucchinipflanzen gestritten, immerhin. Kann gut sein, dass danach wieder die Tomaten dran sind. Oder dass sie plötzlich wild zu ABBA herumtanzen. Voll peinlich.

 

Zum Glück gibt es Tante Greta. Sie ist Mamas Tante und irgendwie auch wieder nicht. „Sie ist um zwei, drei Ecken mit uns verwandt“, heißt es dann. Greta erinnert mich an Pippi Langstrumpf. Sie kommt nie angekündigt, sondern dann, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet. Sie schneidet Grimassen, streckt den Leuten hinter dem Rücken die Zunge heraus und spielt Pferdchen mit uns im Wohnzimmer, wenn alle Erwachsenen an ihren Kaffeetassen nippen. Oder über gläsernen Aschenbechern rauchen. Sie versorgt uns mit Kuchen, Lachen und Geschichten. Greta ist so, wie die deutsche Oma nie ist: voller Liebe. „Na, ihr zwei Schnecken! Was habt ihr heute wieder angestellt? Wollt ihr Johannisbeerkuchen?“ Greta ist unser Rettungsanker. Unser kleiner Ort der Sicherheit, wenn Mama und Papa sich anbrüllen, um sich später wieder in die Arme zu fallen.

 

Paul und ich fahren auf meinem Fahrrad. Es ist uralt, türkis und die Gänge sind kaputt. Wir albern, immer kurz davor, vor lauter Lachen in die Hose zu pinkeln. Um uns herum riecht es einzigartig, wie es nur im August riecht. Nach Staub, frisch gemähtem Gras und Nivea-Sonnenmilch.

 

Paul ist süß wie Zucker. Goldiger als jede Schwester hätte sein können. Er hat sich in jede Backentasche zwei Karamellbonbons gesteckt. Seine strohblonden Haare stehen in alle Richtungen ab. Seine Händchen klammern sich an meine Hüften, während er auf dem Gepäckträger sitzt und ich um Schlaglöcher herumkurve. Ich tue so, als wären dort gefräßige Krokodile, die uns mit einem Biss verschlingen könnten. Natürlich gelingt es mir, unser Leben zu retten, indem ich den Lenker in der allerletzten Sekunde herumreiße. Paul schreit: „Dada! Noch mal!“ Er nennt mich bei meinen Kosenamen, weil er Hannah noch nicht aussprechen kann. Und ich liebe die Art, wie er es ausspricht. Als wäre ich seine Mama. Als könnte ich ihn vor allem beschützen. Er tatscht auf seinen Bauch. „Dada, lieb.“ Ich fahre den Feldweg auf und ab. Überprüfe zwischendurch das Sofakissen, das ich aus dem Wohnzimmer geklaut und für Paul in den Gepäckträger gespannt habe, damit er darauf sitzen kann.

 

Ich muss höllisch aufpassen, keinen Unfall zu bauen. Auf Paul muss ich besonders gut achtgeben. Denn Paul ist nicht wie andere Kinder. Paul kann nicht laufen und toben. Wie gern würde ich mit ihm ins Schwimmbad fahren, ihn hochwerfen, auffangen und ihm zeigen, wie leicht man sich im Wasser fühlt. Wie fliegen. Aber das geht nicht.

 

Wie Paul und ich das Jahr 1983 überlebt haben, weiß ich nicht. Wie Mama und Papa es überlebt haben, auch nicht. Heute sind wir nicht mehr dieselben. Bleibt das Leben so grausam? Keine Ahnung. Das Leben und ich – das wird jedenfalls eine schwierige Kiste.

 

Wie auch immer, wir machen weiter.

 

Und ich habe mir vorgenommen, zu überleben.

 

Ich halte an. Lehne das Rad gegen eine hohe Hecke. Ihr Geruch ist beißend. „Vorsicht, ich will nur überprüfen, ob alles passt. Nicht zappeln, sonst fällst du runter.“ Ich streichele Pauls klebrige Wange, wuschele ihm durch die Haare und befühle seine Beine. Sie stecken in Metallschienen, die mit Riemen festgebunden sind. Das Metall schneidet in seine Haut, und auch das Leder der Schnallen.

 

Ich überprüfe, ob ich die Schienen lockerer einstellen kann, fummele daran herum, bis ich Pauls Fersen sehe. Dann die Verbände. Dort ist alles rot. Wieso geht das so schnell? Ich weiß, was darunter ist.

 

Ich habe es gesehen, vor einigen Monaten, als er aus dem Krankenhaus kam. Paul lag auf einer Decke auf dem Wohnzimmertisch. Er hat sich vor Schmerzen gekrümmt und Mama hat seine Verbände gewechselt, während Papa seine zappelnden Arme und Beine festhielt. Der Schrecken, der mich beim ersten Anblick durchfahren hat, durchfährt mich auch jetzt. Druckstellen von den Schienen. Rohes Fleisch. Alles voller Blut. Wunden, die sich nicht schließen wollen. Egal, was Mama und Papa unternehmen. Warum ist das Leben so gemein?

 

Ich sehe in Pauls Gesicht. Es ist hübsch. Er lächelt mich an, als würde er keinen Schmerz spüren. Oder hat er sich daran gewöhnt? „Dada, fahren?“

 

„Ja. Dada und Paul fahren los.“ Als ich meinen Fuß auf das Pedal stelle, höre ich eine Stimme und erschrecke. Seit dem letzten Jahr erschrecke ich ständig wegen Kleinigkeiten.

 

Ich drehe mich um. Da steht ein Mädchen. Sie muss von hier sein, denn sie hat nichts dabei. Kein Fahrrad, keine Tasche, keine Schuhe. Ich sehe ihre nackten Füße und den schwarzen Rand unter ihren Zehennägeln. Ihr Rock ist am Saum zerrissen. Ein Kind, dessen Eltern hier einen Schrebergarten besitzen, gleich bei den Gleisen, wie wir.

 

Meine Eltern haben den Garten von der Deutschen Bahn bekommen, beziehungsweise von meinem deutschen Opa. Er war Zugführer, wie die deutsche Oma dauernd wiederholt, und während des Zweiten Weltkrieges bei der Reichsbahn angestellt. „Er hat Züge an die Ostfront gefahren und zurück. Soldaten, Munition, hin und her.“

 

Mehr hat man mir nicht erzählt, obwohl ich viele Fragen gestellt habe. „Was ist ein Reich? Was ist die Ostfront? Die Wehrmacht? Was hast du im großen Krieg gemacht? Hast du Menschen erschossen, Opa?“

 

„Das verstehst du nicht.“ Immer dieselbe Antwort.

 

Ich taste nach den Glasmurmeln in meiner Hosentasche. Vielleicht hat das Mädchen Lust, mit uns zu spielen? Sie sieht uns an. „Dein Bruder ist behindert!“

 

„Was?“ Ich drehe mich nach Paul um, der seine Bonbons lutscht.

 

Sie zeigt mit dem Finger auf ihn. „Bist du taub, oder was? Er ist behindert!“

 

Entsetzt sehe ich in Pauls wunderschöne blaue Augen und hoffe, dass er nichts versteht. Natürlich nicht. Er ist nicht mal zwei Jahre alt. Das Einzige, was er kennt, sind Mama, Papa und ich. Und Bert aus der Sesamstraße.

 

Das Mädchen legt den Kopf schief. „Weißt du, was sie früher mit Behinderten gemacht haben?“

 

Meine Augen sind immer noch auf Paul gerichtet. Er rudert mit den Ärmchen. „Dada, wegfahren!“

 

Angst. Da ist er wieder, mein Begleiter.

 

Das Mädchen ist größer als ich, wie alle Kinder in meinem Alter. Ich weiß nicht warum, aber anscheinend hat der liebe Gott vergessen, mich normal wachsen zu lassen. Ich bin ein Zwerg. Jeder schätzt mich auf fünf oder sechs Jahre, dabei bin ich schon acht. Klein zu sein, ist Mist. Großer Mist.

 

Die Haare des Mädchens sind zerzaust. Plötzlich finde ich ihr Gesicht hässlich. Nein, niemals hätten wir mit der spielen wollen. Mein ursprünglicher Gedanke kommt mir auf einmal völlig absurd vor! Sie strahlt etwas Böses aus – ich hätte es sofort merken müssen.

 

Ich stehe wie erstarrt und muss wieder an letztes Jahr denken. Aber jetzt ist 1984. Letztes Jahr ist Geschichte. Ich werde nie mehr zulassen, dass mir so etwas passiert.

 

Das habe ich mir geschworen, als die Polizei kam. An diesem Tag. Als es laut wurde. Als Papa geschrien hat wie ein Verrückter. Als Mama zusammengebrochen ist. Als sich unsere Welt komplett auf den Kopf stellte.

 

„Mein Bruder ist nicht behindert!“, schreie ich das Mädchen an.

 

Sie zeigt auf seine Schienen und grinst. „Doch, ist er. Schau doch hin!“

 

Dieses Mal drehe ich mich nicht nach Paul um, obwohl ich ihn höre. „Dada! Fahren!“

 

„Meine Oma sagt, im Krieg, da hat man Behinderte vergast“, sagt das Mädchen. „Man hat sie in einen Raum gesteckt, Gas reingetan, und dann waren sie tot. Wie Ungeziefer!“ Sie fährt sich mit dem Daumen über den Hals, als würde sie ihn mit einem Messer durchtrennen.

 

„Nimm das zurück!“, wiederhole ich drohend.

 

Sie kommt einen Schritt auf mich zu. „Bist du bescheuert?“

 

Ich kann sie riechen. Schweiß. „Mein Bruder ist kein Ungeziefer!“, schreie ich mit einer Stimme, die mir selbst fremd ist.

 

Paul fängt an zu weinen. „Dada! Mama gehen!“

 

Mit einer schnellen Bewegung greife ich nach ihm, ziehe ihn vom Gepäckträger und setze ihn mit seinen sperrigen Schienen auf den Boden. Ich sehe dem Mädchen in die Augen. Und dann tue ich etwas, das ich nie zuvor in meinem Leben getan habe. Ich schlage ihr meine Faust ins Gesicht. Beim ersten Mal treffe ich ihre Nase. Sehe das Blut, das aus ihren Nasenlöchern spritzt. Ihr Hemd wird rot. Sie brüllt, krümmt sich.

 

Ich stoße sie zu Boden.

 

Sie fällt.

 

Ich stürze mich auf sie, hole zum nächsten Schlag aus. „Niemand, absolut niemand nennt meinen Bruder ein Ungeziefer!“

 

Ich werde den Geruch dieses Tages nie vergessen. Um uns herum riecht es einzigartig. Wie es nur im August riecht. Nach einem Mischmasch aus Staub, frisch gemähtem Gras und Nivea-Sonnenmilch.

 

Und dem blutverschmierten Gesicht eines fremden Mädchens.

 

*

 



[i] Nonna (italienisch) – (dt.) Oma, nonno - (dt.) Opa

 

 

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